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Harry Frankfurt „Die schwächste aller Leidenschaften“

Michael Seibel • Harry Frankfurt über die Wahrheitsliebe   (Last Update: 24.02.2014)

Ist das jetzt ein 'leichter Text'?
Wir haben ihn gleichsam in zwei Teile portioniert. Im ersten Teil ging es um Frankfurts These, dass dasjenige, was uns eigentlich verletzt, wenn uns jemand belügt, dreierlei ist:

1. Er spielt sich quasi auf wie ein Gott, indem er mit seinen Worten Welt erfindet.

2. Er führt uns aufs Glatteis und mindert unsere eigenen Chancen, uns in der Welt zurecht zu finden, indem er uns die Welt zeigt, wie sie nicht ist.

In dieser Mischung aus Überheblichkeit und Täuschung macht er

3. die Intimität eines letztlich nie voll begründbaren Vertrauensverhältnisses zu einem anderen Menschen unmöglich und schädigt dadurch zugleich unser alltägliches Selbstvertrauen, indem wir an unserer eigenen Fähigkeit zu zweifeln beginnen, ob wir noch in der Lage sind zu unterscheiden, wem wir vertrauen können und wem nicht. Es macht uns sozusagen ein wenig verrückt in der prinzipiell unsicheren Welt. Das meint Frankfurt.

Das schien uns durchaus nachvollziehbar. Allerdings fiel uns auch auf, dass Frankfurt sehr genau zu wissen scheint, was wahr ist oder nicht. Zunächst scheint es also eine festgefügte Welt zu geben, die vom Lügner destabilisiert wird, eine Welt, in der man, wenn niemand lügen würde, jederzeit genau wüsste, was wahr und was falsch ist. Und es wären demnach die Individuen, die das Gefüge der Wahrheit durcheinanderbringen. Bei dieser individualistischen Vorstellung von Wahrheit und Lüge konnten wir Frankfurt nicht ganz folgen.

Andererseits würde wohl niemand von uns weder auf den Begriff der Lüge, noch auf die Erwartung an andere Individuen, nicht zu lügen, verzichten wollen.

Der Lügner setzt sich, das schien uns offensichtlich, nicht nur in ein Verhältnis zur Wahrheit, sondern zu seiner sozialen Umgebung und den dort gerade bestehenden Ordnungen. „Peter, sag, hast du Mutti das Geldstück aus dem Portemonnaie genommen? Und bitte lüge nicht!“
Will Peter wirklich die Intimität mit seiner Mutter unterminieren? Man fragte: Wie steht es mit Notlügen? (Da tauchte plötzlich Immanuel Kant auf, der, wie man weiss wirklich keine Ausnahme vom Gebot, die Wahrheit zu sagen, zulässt. Für alle, die ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen mögen, habe ich seinen Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ als Anhang beigefügt. Da kann man nachlesen, was er wirklich meint.

Download: Immanuel Kant: „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“)

Zweiter Teil der Frankfurt-Lektüre war sein Begriff der Ambivalenz. Anders als die Psychoanalyse versteht er Ambivalenz als „Gespaltenheit des Willens“. Das heißt also nicht, dass er sich in Bezug auf seine Gefühle im Unklaren ist, dass er also z.B. unbewussten Gefühlskonflikten ausgesetzt ist, sondern „dies bedeutet, dass er nicht weiß, was er wirklich will.“ Die Elemente des Konflikts liegen „zur Gänze im Willen einer Person“. „Eine Person ist also nur dann ambivalent, wenn sie unentschlossen ist, ob sie für oder gegen eine bestimmte Einstellung votieren soll.

Wenn man so will, kommt hier Frankfurt ohne psychoanalytische Tiefgründigkeit aus. Im Gegensatz zur Psychoanalyse ist hier nichts Geheimnis, dass erst gehoben werden müsste. Das betrachtet Frankfurt gerade als seine Leistung. „Wenn Ambivalenz eine Krankheit des Willens darstellt, dann besteht die Gesundheit des Willens darin, einig und in diesem Sinn ungeteilt und mit sich im Reinen [wholehearted] zu sein.

Und in der Tat: Wer wäre nicht gern mit sich selbst im Reinen! Mit Frankfurt zu reden: Wer wüsste nicht gern jederzeit, was er will. Es muss ja nicht perfekt sein. Denn darauf weist Frankfurt hin: Es ist uns Menschen gelegentlich durchaus auch möglich, mit dem zufrieden zu sein, was ist, selbst wenn es nicht das Optimum des uns erreichbaren ist. Irgendwo, will er wohl damit sagen, endet für jeden Glücklichen der Zwang der Leistungsgesellschaft.

Mein Eindruck: Auch hier ist wieder zu viel richtig, als dass man die gesamte Überlegung verwerfen könnte: Ich zweifle nicht, dass man im Amerika Frankfurts und sicher auch bei uns eine große Zahl der Glücklichen irgendwo zwischen den Beschränktheiten eines bürgerlichen Idylls und dem jugendlichen Übermut findet, also genau unter denen, die wissen, was sie wollen, wenn sie auch keineswegs wissen, warum das, wovon sie wissen, dass sie es wollen, ausgerechnet das ist, was sie wollen. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Beispiel: Ich möchte den sehen, der noch wholeharted, also ganz und gar mit sich selbst im reinen ist, wenn sein Partner oder seine nahe Umwelt mit seinen Vorstellungen des Wünschenswerten nicht einverstanden ist.

Frankfurts Argument scheint mir ziemlich richtig, aber auch ziemlich tautologisch. Etwas selbstgefällig, eben.




(Auch hier gebe ich einen Hintergrundtext als Anhang mit: Einen Lexikon-Artikel von Laplanche und Pontalis, zwei französischen zeitgenössischen Psychoanalytikern zum Thema Ambivalenz)

(aus: Laplanche, Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 1977, S.55 ff.)


Ambivalenz

engl.: ambivalence — frz.: ambivalence -— ital.: ambivalenza — port.: ambivalência —span.: ambivalencia.


Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebun­gen‚ Hal­tungen und Gefühle, z.B. Liebe und Haß, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt.


Freud übernimmt den Ausdruck >Ambivalenz< von Bleuler, der ihn geprägt hat (1). Bleuler nimmt Ambivalenz auf drei Gebieten an. Auf dem des Willens (Ambitendenz): das Subjekt will z.B. zu gleicher Zeit essen und nicht essen. Auf dem des Intellekts: das Subjekt äußert gleichzeitig eine Meinung und deren Gegenteil. Auf dem des Affekts: es liebt und haßt in einer Regung die gleiche Person.


Bleuler sieht in der Ambivalenz ein Hauptsymptom der Schizophrenie (2), erkennt aber die Existenz einer normalen Ambivalenz an. Die Besonderheit des Begriffes der Ambivalenz im Hinblick auf das, was vorher als Komplexität von Gefühlen oder Fluktuation von Verhaltens­weisen be­schrie­ben wurde, beruht einerseits auf der Aufrechterhaltung eines Gegensatzes vom Typus ja - nein‚ wo Bejahung und Verneinung simultan und unauflös­bar sind; andererseits auf der Tatsache, daß dieser fundamentale Gegensatz in verschiedenen Bezirken des psychischen Lebens wiedergefunden werden kann. Bleuler bevorzugt schließlich die affektive Ambivalenz, und in diesem Sinn wird der Begriff von Freud verwendet.


Der Ausdruck erscheint bei Freud erstmals in Zur Dynamik der Übertra­gung (1912), um Phänomene der negativen Übertragung darzustellen:
»... (sie) findet sich neben der zärtlichen Übertragung, oft gleichzeitig auf die nämliche Person gerichtet (…) die Ambivalenz der Gefühlsrichtungen erklärt uns am besten die Fähigkeit der Neurotiker, ihre Übertragungen in den Dienst des Widerstandes zu stellen« (3) Aber man trifft schon früher auf den Gedanken einer Verbindung von Liebe und Haß, z.B. in den Analysen des kleinen Hans (4) und des Rattenmanns: »Es tobt in unserem Verliebten ein Kampf zwischen Liebe und Haß, die der gleichen Person gelten... « (5).
In Triebe und Triebschicksale (1915) spricht Freud von Ambivalenz hin­sicht­lich des Gegensatzpaares Aktivität-Passivität: »... neben einer Trieb­regung (ist) ihr (passiver) Gegensatz zu beobachten...« (6a). In diesem sehr weiten Sinn wird der Ausdruck >Ambivalenz< selten verwendet.


Im gleichen Text wird die Ambivalenz am deutlichsten sichtbar im materi­ellen Gegensatz Liebe-Haß, die auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind.

Ambivalenz läßt sich an bestimmten Affektionen (Psychosen, Zwangs­neurose) und in bestimmten Zuständen (Eifersucht, Trauer) besonders deutlich aufzeigen. Sie kennzeichnet bestimmte Stufen der Libido­ent­wicklung, auf denen Liebe und Destruktion des Objekts zusammen vorkommen (oralsadistische und analsadistische Stufe).


In diesem Sinn wird sie bei Abraham zu einer genetischen Kategorie, die es ermöglicht, die jeder Stufe eigene Objektbeziehung zu kennzeichnen. Die erste Hälfte der oralen Stufe wird als vorambivalent bezeichnet: Der Saugeakt »... ist ein Akt der Einverleibung, durch welchen aber die Existenz der nährenden Person nicht aufgehoben wird« (7). Für diesen Autor tritt die Ambivalenz lediglich im Zusammenhang mit der sadistischen, kanniba­listischen Oralität in Erscheinung, die eine Feindseligkeit gegen das Objekt einschließt; dann lernt das Individuum, mit seinem Objekt um­zu­ge­hen, es vor der Destruktion zu retten. Schließlich kann die Ambivalenz auf der genitalen Stufe überwunden werden (nachambivalent). In den Arbeiten von Melanie Klein, die Abrahams Konzeptionen übernimmt, hat die Ambivalenz einen entscheidenden Platz. Für Melanie Klein ist der Trieb von vornherein ambivalent: Die Liebe des Objekts unterscheidet sich nicht von seiner Destruktion; die Ambivalenz wird also eine Qualität des Objekts selbst, mit der das Subjekt ringt, indem es das Objekt in ein gutes und ein böses Objekt spaltet: Ein ambivalentes Objekt, das zugleich in höchstem Maße wohl­wollend und zutiefst zerstörerisch wäre, könnte es nicht ertragen.

Der Ausdruck >Ambivalenz< wird in der Psychoanalyse oft in einem sehr weiten Sinn verwendet. Er kann tatsächlich dazu dienen, die aus einem Abwehrkonflikt, in dem unvereinbare Motivationen ins Spiel kommen, resultierenden Handlungen und Gefühle zu bezeichnen; sofern das, was für ein System lustvoll ist, für ein anderes unlustvoll ist, kann man jede »Kompromißbildung« ambivalent nennen. Aber hier besteht die Gefahr, daß der Begriff >Ambivalenz< alle Formen vagen, konflikthaften Verhaltens kennzeichnet. Damit er den deskriptiven, ja symptomatischen Wert, den er ursprünglich hat, behält, wäre es besser, in der Analyse spezifischer Kon­flikte, in der die positive und negative Komponente eines affektiven Verhaltens gleichzeitig und unauflösbar in einem nicht-dialektischen Gegensatz gegenwärtig und unüberwindlich für das Subjekt sind, das zugleich ja und nein sagt, auf die ursprüngliche Bedeutung zurückzu­kommen.

Bedürfte es zur Erklärung der Ambivalenz noch eines fundamentalen Dualismus, wie ihn die Freudsche Triebtheorie einführt? So ließe sich die Ambivalenz von Liebe und Haß durch ihre spezifische Entwicklung verdeutlichen: der Haß hat seinen Ursprung in den Selbsterhaltungstrieben (die Vorbilder stammen aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung) (6b), die Liebe in den Sexualtrieben. Die Gegenüberstellung von Lebens- und Todestrieben in Freuds zweiter Konzeption verbindet die Ambivalenz noch eindeutiger mit dem Triebdualismus.

Am Ende seines Werks ist Freud bestrebt, dem Ambivalenz-Begriff eine größere Bedeutung in der Klinik und Theorie des Konflikts zu verschaffen. Der ödipale Konflikt wird von der Triebseite her als ein Ambivalenzkonflikt verstanden, da eine seiner Hauptdimensionen die Gegenüberstellung einer »gut begründete(n) Liebe und (eines) nicht minder berechtigtem) Hass(es), beide auf dieselbe Person gerichtet«, ist (8). In dieser Sicht wird die neurotische Symptombildung als ein Lösungsversuch eines solchen Konflikts aufgefaßt: so verschiebt die Phobie eine der Komponenten, den Haß, auf ein Ersatzobjekt; die Zwangsneurose versucht, die feindselige Regung zu verdrängen, indem sie die libidinöse Regung in Form von Reaktionsbildung verstärkt. Diese unterschiedliche Beleuchtung der Freudschen Konzeption des Konflikts ist insofern interessant, als sie den Abwehrkonflikt in der Triebdynamik verankert und dazu anregt, hinter dem Abwehrkonflikt, soweit er die Instanzen des psychischen Apparates ins Spiel bringt, die dem Triebleben inhärenten Widersprüche zu suchen.


(1) Vgl. Bleuler, E., Vortrag über Ambivalenz, 1910. In Zentralblatt für Psychoanalyse, I, 266.
(2) Vgl. Bleuler, E., Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Leipzig und Wien, 1911.
(3) Freud, S., G.W., VIII, 372-373; S. E., XII, 106-107; frz., 58-59.

(4) Vgl. Freud, S., Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, 1909. G.W., VII, 243-377; S. E., X, 5-149; frz., 93-198.

(5) Freud, S., Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, 1909. G.W., VII, 413; S. E., X, 19I;frz., 223. .

(6) Freud, S., Triebe und Triebschicksale, 1915.

a) G.W., X, 223—224; S. E., XIV, I31; frz., 51. b) G.W., X, 230; S. E., XIV, 138; frz., 63.

(7) Abraham, K.‚ Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen, 1924. — frz., II, 276; dtsch. in: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung, S. Fischer, 1969, S. 140.

(8) Freud, S., Hemmung, Symptom und Angst, 1926. G.W., XIV, 130; S. E., XX, 102; frz., 20.



Download: Harry Frankfurts Aufsatz - 'Die schwächste aller Leidenschaften'

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